Stolpersteine und Erinnerungsarbeit

27. Januar 2021

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Die Stolpersteine des Kölner Bildhauers und Aktionskünstlers Gunter Demnig sind Teil einer Erinnerungsarbeit, die unmittelbar mit der Befreiung der Konzentrationslager durch amerikanische, britische und sowjetische Truppen 1945 begann. Ein Beitrag aus Anlass des Internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreitung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Von Knut Maßmann.

Die Stolpersteine von Gunter Demnig erinnern symbolisch am letzten frei gewählten Wohnort an Menschen, die von den Faschisten in den Jahren 1933 bis 1945 verfolgt, entrechtet, vertrieben, deportiert und ermordet worden sind. Das größte und dezentrale Denkmal in Europa erinnert an Jüdinnen und Juden, politisch Verfolgte, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, behinderte Menschen. Man stolpert nicht wirklich über die in das Straßenpflaster eingelassenen kleinen, quadratischen Gedenksteine, sondern nur im übertragenen Sinn. Wer auf sie beim Gehen aufmerksam wird, muss anhalten und sich vor dem Stein verbeugen, um unter der Aufschrift „Hier wohnte“ Namen, Lebensdaten und Verfolgungsgrund zu lesen. Diese Stolpersteine sind Teil einer Erinnerungsarbeit, die unmittelbar mit der Befreiung der Konzentrationslager durch amerikanische, britische und sowjetische Truppen 1945 begann. Die befreiten Überlebenden schufen die ersten Denkmale zur Erinnerung an ihre geschundenen und ermordeten Leidensgenossen und zur (Er-)Mahnung, dass das nie wieder geschehen dürfe. Die Erinnerung an das Grauen war noch frisch und brauchte keine Erklärung.

Auch in Gelsenkirchen wurden in der Nachriegszeit Denkmale zur Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus errichtet. Bereits die ersten waren von jüdischen Überlebenden 1947 auf dem wiederhergestellten jüdischen Friedhof in Buer und 1948 auf dem Gelände von Gelsenberg für jüdische Zwangsarbeiterinnen aus Ungarn geschaffen worden. Letzteres befindet sich heute auf dem Horster Südfriedhof. Dort wurde 1947/48 von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ein Denkmal für den antifaschistischen Widerstand errichtet, zur Erinnerung an die 1920 im Anschluss an den Kapp-Putsch von rechtsradikalen Freikorps ermordeten Mitglieder der „Roten Ruhrarmee“ (das ursprüngliche Denkmal war von den Nazis zerstört worden) und ergänzt um Horster Widerstandskämpfer 1933-1945, insbesondere der Franz-Zielasko-Gruppe. Schließlich wurde auf Initiative der VVN und mit Unterstützung der Stadt Gelsenkirchen im Stadtgarten ein antifaschistisches Mahnmal für alle Verfolgten und Ermordeten, gewidmet „Den Opfern der Naz.Soz. Gewaltherrschaft“, errichtet und am 10. September 1950 feierlich der Öffentlichkeit übergeben. Es wird noch heute jährlich während des Ostermarschs und zum Antikriegstag besucht.

Mit dem Kalten Krieg zwischen den Siegermächten, der Ideologie des Antikommunismus und der Ost-West-Konfrontation begann das Verdrängen und Vergessen der unliebsamen Geschichte. Mahnmale aus einfachem Material verrotteten oder wurden bewusst zerstört. Zahlreiche im Faschismus Ermordete wurden von Ruhestätten in Lagernähe in zentrale Kriegsgräberstätten, oftmals neben Soldaten und SS-Angehörigen, umgebettet. Nichtssagende Inschriften wie „Den Toten 1933-1945“ und christliche Symbole für das Gedenken, die das spezifische Schicksal der Toten verschwiegen, zeugten von dem Wunsch vieler Deutscher, die unliebsame Geschichte gleichsam zu beerdigen. Viele Nazis wurden in die noch junge Bundesrepublik integriert, während die Geschichtsbücher den „Nationalsozialismus“ auf Hitler und seine Schergen reduzierten, den Widerstand gegen ihn auf die Männer des 20. Juli 1944.

Ein Beispiel für den Umgang mit der unbequemen Erinnerung steht in kastrierter Form noch heute in Nordrhein-Westfalen, im ostwestfälischen Stukenbrock in der Nähe von Bielefeld. Dort hatte die Deutsche Wehrmacht ein Kriegsgefangenenlager mit der Bezeichnung STALAG 326 VI/K zunächst nur mit einer Umzäunung eingerichtet und bereits unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 mit Kriegsgefangenen belegt. Diese wurden zu Zwangsarbeit in der Umgebung und der Industrie des Ruhrgebietes gepresst und starben zu Tausenden unter erbarmungswürdigen Bedingungen. Bereits kurz nach ihrer Befreiung durch die US-Army am 2. April 1945 gestalteten die Überlebenden den Friedhof mit Gedenksteinen für die 36 Massengräber und errichteten einen 10 Meter hohen Obelisken. Doch schon in den 1950er und 1960er Jahren wurde der Friedhof zu einer Parklandschaft umgestaltet und der Obelisk verändert. Die überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen hatten ursprünglich eine Glasplastik in Form einer roten Fahne mit Hammer und Sichel, der Fahne der Sowjetunion, an seiner Spitze angebracht. Diese wurde durch ein orthodoxes Kreuz ersetzt. Die rote Fahne als Symbol für die hier ermordeten Soldaten der Sowjetunion bleibt bis heute ein Tabu.

Seit etwa Mitte der 1950er Jahre organisierten sich die Überlebenden der Konzentrationslager Dachau, Neuengamme und der Emslandlager in Europa, wandten sich gegen Abriss und Verfall und forderten die Einrichtung von würdigen Gedenkstätten an den Orten der Konzentrationslager zur Erinnerung und Mahnung. Der öffentliche Druck hatte Erfolg. So wurde beispielsweise im Jahre 1965, zwanzig Jahre nach der Befreiung, die Gedenkstätte Dachau auf dem Gelände des ehemaligen „Schutzhaftlagers“ eröffnet. Neben originalgetreuen und rekonstruierten Gebäuden wurde ein Museum mit einer großen Ausstellung eingerichtet, in der die Geschichte des Dritten Reiches, des Konzentrationslagers Dachau und seiner Außenlager dargestellt wurde.

Ab den 1960er Jahren führten die gesellschaftlichen Veränderungen zu einem Wandel im öffentlichen Klima. So zeigte die sich verstärkende wissenschaftliche Bearbeitung der Nazi-Zeit die Widersprüchlichkeit der Strukturen des NS-Staats auf und machte den Weg frei für die Erforschung des „Alltags im Nationalsozialismus“. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte beispielsweise die US-Fernsehserie „Holocaust“ 1979, die die Geschichte einer jüdischen Familie im Dritten Reich zeigte. Geschichtswerkstätten beschäftigten sich mit lokaler Geschichte und holten das „Dritte Reich“ vor die eigene Haustür. In Gelsenkirchen erschien 1981 als Ergebnis eines Kurses der örtlichen Volkshochschule die Veröffentlichung „Beispiele des Widerstands in Gelsenkirchen 1933 – 1945“. 1983 erschien ein Beitrag über das Gelsenkirchener Außenlager des KZ Buchenwald in den Beiträgen zur Stadtgeschichte des örtlichen Heimatvereins.

In den 1980er Jahren führten fünf „runde“ Gedenktage, 1983 an die Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933, 1984 an das Attentat vom 20. Juli 1944, 1985 an das Kriegsende vom 8. Mai 1945, 1988 an die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 und 1989 an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vom 1. September 1939 zu einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit, zu zahlreichen auch lokalen Veranstaltungen. Zu einer kurzfristigen Aufregung in Gelsenkirchen führte z.B. ein Flugblatt der ötv-Jugend Gelsenkirchen, das zu einer Veranstaltung am 30. Januar 1984 einlud und auf dessen Rückseite eine Seite aus dem Adressbuch der Stadt Gelsenkirchen von 1939 abgedruckt war, die Hitler und andere Nazi-Größen als Ehrenbürger der Stadt nannten. Sehr schell erklärte die Stadt, dass die Ehrenbürgerwürde bereits unmittelbar nach Kriegsende durch Ratsbeschluss aberkannt worden sei. Das „Dritte Reich“ vor der eigenen Haustür behagte nicht jedem. Zwischen 1986 und 1988 benannte der Rat der Stadt Gelsenkirchen den Heinrich-König-Platz, den Margarethe-Zingler-Platz und den Fritz-Rahkob-Platz nach örtlichen Widerstandskämpfern aus den Reihen der Christen, der Sozialdemokraten und der Kommunisten sowie den Leopold-Neuwald-Platz zur Erinnerung an die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger Gelsenkirchens. Inzwischen ist noch ein fünfter Platz, benannt nach dem Sinti-Kind Rosa Böhmer, in unmittelbarer Nachbarschaft des Fritz-Rahkob-Platzes hinzugekommen.

Das wachsende Interesse, sich mit der NS-Barbarei auseinanderzusetzen, führte in den 1980er Jahren auch zur Gründung weiterer, sogenannter „arbeitender“ Gedenkstätten mit einer Ausstellung und Besucherbetreuung. In unserer Nachbarstadt wurde beispielsweise 1980 die Alte Synagoge Essen als Mahn- und Gedenkstätte mit einer Ausstellung zu Widerstand und Verfolgung 1933-1945 eröffnet. Standen anfangs die Themen Widerstand und Verfolgung im Vordergrund, erweiterte sich der Focus bald. In Essen folgten eine Ausstellung über „Stationen jüdischen Lebens“ und ein Gedenkbuchprojekt, in dem durch interessierte Einzelpersonen und Schulklassen der Lebensweg einzelner ermordete Bürger der Stadt rekonstruiert wird. So wird ein namentliches Gedenken ermöglicht, wie es sonst nur Verwandten mit ihren persönlichen Erinnerungen möglich ist. Genügten den Überlebenden symbolische Gedenkorte an denen sie „sich erinnern“ können, so benötigen die Nachgeborenen Informationen und Aufklärung, um „zu erinnern“. In der Gegenwart hat sich der Schwerpunkt der Alten Synagoge weiter verändert, sie konzentriert sich heute als „Haus jüdischer Kultur“ auf die lebendige Vielfalt jüdischen Lebens.

In Gelsenkirchen wurde am 8. Mai 1994 im Stadtteil Erle die Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ eröffnet. Die Dokumentationsstätte befindet sich in einem Gebäude, in dem Ortsgruppen der NSDAP und Einheiten der Erler SA untergebracht gewesen sind. In einem Schulungsraum im Obergeschoss ist auf einer Wand das Parteiprogramm der NSDAP abgebildet, das nach seiner Wiederentdeckung 1989 unter Denkmalschutz gestellt worden ist. Der Rat der Stadt Gelsenkirchen beschloss damals die Einrichtung des Dokumentationszentrums sowie die Gründung des Instituts für Stadtgeschichte. Eine erste Dauerausstellung ist am 8. Mai 1994 eröffnet worden, eine neue Dauerausstellung am 8. Mai 2015. Die neue Dauerausstellung thematisiert die von den Nazis propagierte „Volksgemeinschaft“ und fragt nach den Bedingungen und konkreten Mechanismen vor Ort, mit denen die Nazis einen sozialen Konsens herzustellen suchten. Daneben vergisst die Ausstellung nicht Verfolgung und Widerstand und die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit nach 1945.

Die Stolpersteine, die Gunter Demnig seit 1992 verlegt, schlagen einen anderen Weg als Denkmale und Gedenkstätten ein – und sie ergänzen die vorhandenen Gedenkorte auf besondere Weise. Sind Gedenkstätten bislang entweder Einrichtungen, die als Lern- und Gedenkorte angelegt sind oder Denkmale auf Friedhöfen oder an abgelegenen Plätzen, wohin die Faschisten die ihnen unerwünschten Personen deportierten, holt Demnig mit seinen Stolpersteinen die symbolische Erinnerung an die unter armseligen Vorwänden verfolgten und ermordeten Menschen an die Orte zurück, an denen sie vorher gewohnt und gelebt haben, aber ausgegrenzt und in den meisten Fällen ermordet wurden. Es handelt sich bei den Stolpersteinen um eine Form der Erinnerung, die nicht auf rationale Beschäftigung, sondern auf persönliche Betroffenheit setzt. Das größte und dezentrale Denkmal Europas“ besteht inzwischen aus weit über 60.000 Stolpersteinen in 1265 Kommunen in Deutschland und in 21 Ländern Europas. Demnig selbst sagt dazu: „Mein Projekt ist ein dezentrales Denkmal, eingebunden in den Alltag. Dort, wo die Menschen ihren Lebensmittelpunkt hatten, ihre Heimat, ihre Wohnung, wird Vergangenheit mit Gegenwart konfrontiert.“

Seit 2009 hat Gunter Demnig auch regelmäßig in Gelsenkirchen Stolpersteine verlegt. Dies ist hier insbesondere dem Engagement von Andreas Jordan zu verdanken, der sich seit Jahren dafür einsetzt. Eine Übersicht der in Gelsenkirchen verlegten Stolpersteine und vieler recherchierter Hintergründe zu Personen und Ereignissen findet sich auf den Webseiten der Arbeitsgruppe Stolpersteine bzw. von Gelsenzentrum e.V. Inzwischen liegen in Gelsenkirchen über 200 Stolpersteine, für aus ganz unterschiedlichen Gründen verfolgte und ermordete Menschen, sowie vor dem Polizeipräsidium in Buer eine Stolperschwelle für ermordete Zwangsarbeiter. Die Beschreibung Gunter Demnigs als Bildhauer und Aktionskünstler macht auch die Bedeutung der Stolpersteine als Gesamtkunstwerk deutlich. Es geht nicht nur darum, dass Steine im Pflaster vorhanden sind. Seine Bedeutung erhält das Projekt durch die zelebrierte Verlegung selbst und durch die wiederkehrende Verlegung weiterer Stolpersteine. Darüber hinaus lassen sie sich für Formen entdeckenden Lernens ebenso nutzen wie für ganz profan scheinende Aktivitäten wie „Stolperstein-Putzaktionen“. Letztere erwecken durchaus eine ganz besondere öffentliche Aufmerksamkeit. In Gelsenkirchen hat in den Jahren 2019 und 2020 die Gelsenkirchener VVN-BdA anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar ein Veranstaltungsformat entwickelt, das in Anlehnung an eine 2016 gestartete Buchreihe des Eckhaus-Verlags den Namen „Stolperstein-Geschichten“ erhielt. Erzählt werden individuelle und historische Hintergründe zu dem jeweiligen Stolperstein oder den Stolpersteinen.

Dies ist die bearbeitete und erweiterte Fassung des hier 2012 veröffentlichten gleichnamigen Beitrags.